Lisboa 2018

Lisboa 2018

Freitag, 16. März 2018

Eisige Reaktionen auf warme Ballade aus Island

Ein neues Jahr, eine neue Chance. Gerade für Island sollte dieses Motto gelten, um die Vergangenheit etwas in Vergessenheit geraten zu lassen. Auch dieses Jahr fand das fast schon traditionsreiche Söngvakeppnin auf Island statt und der überraschende Gewinner Ari soll Island wieder zum alten Glanz vergangener Tage bringen.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=nloweviD_90
Die ESC-Vergangenheit:

Island debütierte 1986 beim 31. Eurovision Song Contest im norwegischen Bergen und war somit das letzte Land aus dem hohen Norden, das seinen Weg zur größten Musikshow der Welt fand. Mit zwei Ausnahmen 1998 und 2002 (Dort konnte man sich auf Grund der schlechten Ergebnisse der Vorjahre nicht qualifizieren) nahm das Land immer am ESC teil, womit Island 2018 zum 31. Mal beim ESC antreten wird. Gewinnen konnte Island noch nie, allerdings konnte sowohl 1999 als auch 2009 ein hervorragender zweiter Platz belegt werden, jeweils hinter einem skandinavischen Bruder. In der jüngeren Vergangenheit konnte Island an diese Erfolge nicht ranreichen. So konnte man sich in den letzten 10 Jahren zwar sieben Mal für das Finale qualifizieren, allerdings holte Svala 2017 den Hattrick mit der dritten Nichtqualifikation in Folge. Somit spricht der Trend klar gegen Island und es ist am erst 19 jährigen Sänger diesen Trend zu brechen.

Die Auswahl:

In Island wurde mit der ersten Teilnahme 1986 das Söngvakeppni gestartet. Ein über mehrere Runden gestalteter Wettbewerb, dessen Sieger in beinahe allen Jahren auch beim ESC antrat. 2018 wurde das geänderte Konzept von 2009 weitergeführt. Es gab 2 Semifinals mit je sechs Teilnehmer, von denen sich jeweils 3 für das Finale qualifizieren konnten. In den Halbfinals entschied zu 100% das Televoting, im Finale  gab es ein absolutes Punktesystem zu 50% Jury und 50% Televoting, wobei die beiden erfolgreichsten Beträge erneut in einem Superfinale erneut gegeneinander antraten, woran eine zweite Votingrunde gekoppelt war, in der nur die Zuschauer entschieden. Die Besonderheit des isländischen Vorentscheids ist, dass es im Halbfinale die Regelung gibt, dass in Landessprache gesungen werden muss. Im Finale entfällt diese Regelung, wodurch sich 4 der 6 diesjährigen Finalisten für eine Englische Version entschieden.

Die Qualität des diesjährigen Teilnehmerfeldes ließ ordentlich zu wünschen übrig. Mag es daran liegen, dass Greta Salomé dieses Mal nicht vertreten war oder eben doch ein gewisses Desinteresse der Künstler auf Grund der letzten Ergebnisse Islands der Grund ist. Die Begeisterung in der Bevölkerung ist jedoch ungebrochen. Allein im Superfinale kamen insgesamt fast 84 000 stimmen an und auch beim ESC bricht Island mit Einschaltquoten von 95% jegliche Rekorde. In diesem Jahr galt vor allem Dagur Sigurdsson als großer Favorit. Der stämmige Isländer war ebenfalls mit einer Ballade am Start, die allerdings etwas rockiger und nicht ganz so klassisch war, wie der spätere Sieger. 

Zweiter Platz im Vorentscheid und Favorit vor der Show

Potential für Drama gab es dieses Jahr vor allem bei der Abstimmung. Dagur konnte sowohl das Jury- als auch das Televoting für sich entscheiden, Ari zog mit einem deutlichen Rückstand von circa 9000 Punkten ebenfalls ins Superfinale ein. In diesem wendete sich das Blatt allerdings überraschend und Ari war der völlig unerwartete Sieger. Daraufhin traten Spekulationen und Vorwürfe von Fans des unterlegenden Künstlers auf, dass Stimmen nicht gewertet wurden, was der Telefonanbieter klar zurückwies. Wie dem auch sei: Ari gewann mit einem knappen Vorsprung von 53,23%.

Der Künstler:

Ari Ólafsson ist ein recht bekanntes Gesicht auf Island, wobei in diesem Land mit 330.000 Einwohnern jeder Sänger recht bekannt sein sollte. Er wuchs in Islands Hauptstadt auf und verbrachte einige Zeit seiner Kindheit in Florida. Bereits im Kindesalter konnte er sich für die Bühne begeistern, sodass er mit 11 Jahren die Hauptrolle in einem Musical übernahm, entdeckt wurde er damals übrigens von Selma Björnsdottir, die Zweitplatzierte vom ESC 1999. Später nahm ihn eine bekannte norwegische Sopranistin unter ihre Fittiche und bildete ihn aus. 2015 nahm er dann an der isländischen Version von The Voice teil, gewann allerdings nicht. Es drehte sich nur einer von 4 Coaches um, eine davon Svala, also seine Vorgängerin. Danach stand er als Backgroundsänger beim Vorentscheid auf der Bühne und nun wird er Island in Lissabon vertreten. 

Der Song:

Hier ist der diesjährige isländische Beitrag "Our Choice" von Ari Ólafsson:


Our Choice erfindet das Rad natürlich nicht neu, im Gegenteil: Es wirkt doch ziemlich aus der Zeit gefallen. Der Aufbau ist klassisch,ohne Abweichungen. (Vers A, Refrain, Vers B, Refrain, Bridge, Refrain, Ausklang) Auch sehr klassisch ist der Beginn, bei dem er nur von Klavierakkorden begleitet wird, die im Refrain durch dezente Streicher erweitert werden. Im zweiten Vers kommt das obligatorische Schlagzeug hinzu und auch in den Streichern gibt es nun einige Gegenmelodien. Im Refrain treten die Instrumente weiter in den Vordergrund und der (ebenfalls obligatorische) Chor singt lange Ahhh-Töne. Die Bridge ist harmonisch sehr interessant, da auch von Dur abgewichen wird, die Instrumente hingegen ziehen sich wieder zurück, nur das Schlagzeug spielt und der Chor singt melodische Gegenbewegungen. Zum Ende der Bridge, an der jede weibliche Sängerin den klischeehaften Schrei raushauen würde, singt er einen überraschend hohen Ton mit seiner Kopfstimme. Im letzten Refrain baut er natürlich einige Abweichungen zur Melodieführung ein und auch der Chor unterstützt ihn nun. Am Ende nimmt sich das Stück erneut komplett zurück und endet nur mit ihm und dem Klavier. Bemerkenswert ist der Oktavsprung nach dem ersten Refrain, der auch im 2. Refrain beibehalten wird.

Rein kompositorisch ist das hier ein sehr klassischer Beitrag, mit einigen Besonderheiten, die beim genaueren Hinhören auffallen. Allerdings sind auch sehr viele Klischees eingebaut worden, sodass das Besondere doch fehlt und dieser Beitrag bei einem stärkeren Teilnehemerfeld wahrscheinlich untergegangen wäre. Natürlich ist es kein schlechtes Lied, nur hätte man das auch schon vor 30 Jahren hören können und damals hätte ich ihm große Chancen ausgerechnet. 

Komponiert und getextet wurde der Song von Þórunn Erna Clausen, eine der wenigen weiblichen Komponisten in Island, was Greta Salomé in der Vergangenheit sehr bedauerte. Die Enkelin eines bekannten isländischen Leichtathleten ist keine Unbekannte in ESC-Kreisen, da sie den Beitrag 2011 (20. Platz) textete. Die Sopranistin ist außerdem als Schauspielerin tätig, wo sie in einigen isländischen Produktionen tätig war. Die 42-jährige war die fleißigste Komponistin in diesem Jahr, da 3 der 6 Songs mit ihrer Beteiligung entstand (Platz 1,2 und 5). Auch 2016 und 2012 konnten sich ihre Songs für das Finale im Vorentscheid qualifizieren, hatten aber mit dem Ausgang des Sieges nichts zu tun.

Der Text: 

Die Grundaussage des Songs befindet sich im Balladen-typischen Gebiet: Wir können die Welt zu einem besseren Ort machen, aber es liegt eben auch an uns, diesen Weg aktiv einzuschlagen. Solche Weltverbesserungshymnen gibt es alle Jahre wieder, doch nur wenige erreichen ein so schwaches und kitschiges Level wie Our Choice es schafft. Hier ein paar Auszüge:
Zu viele Menschen sterben im Schmerz,
aber zusammen können wir den Schmerz lindern.
 ...

In jeder Sprache gibt es ein Wort für Liebe und Schmerz
...
Denn im Inneren sehen wir alle gleich aus

Natürlich ist das eine schöne und wichtige Botschaft, aber das ganze wirkt doch etwas ausgelutscht und zu klischeemäßig aufgebaut, was mich stark an Russland 2013 (What if) erinnert. Somit nehmen diese Zeilen qualitativ dem Song einiges weg, was wirklich sehr schade ist. Im Semifinale präsentierte er ja den Beitrag auf Isländisch als "Heim" (Welt). Dort gibt es leider keine offiziellen Englischen Lyrics, jedoch zeigt eine kurze Übersetzung, dass der Song auf Isländisch eine tiefere Bedeutung hat. (Wir suchen alle einen Weg nach Hause/ Es versteckt den inneren Seelenkrieg) Selbst wenn der Song auch auf Isländisch kein Meisterwerk wäre, dann hätte das Europa auf Grund der fehlenden Sprachkenntnisse nicht beschäftigt. Aber so wird sich der ein oder andere an den peinlich kitschigen Lyrics fremdschämen.


Hier die isländische Version:



Das Gesamtpaket: 

Das kleinste Problem an diesem Beitrag wird Ari sein, denn er macht das Beste aus diesem flachen Song. Stimmlich ist das ganz große Klasse und auch den großen Ambitus des Liedes bekommt er ohne Probleme hin. Natürlich fällt besonders der 'Kreischer' am Ende der Bridge auf, den er ebenfalls souverän meisterte. Auch die Kameras fangen den smarten Mann gut ein und er wirkt wie der Traum jeder Schwiegermutter. Auch der Anzug wirkt hochwertig und passt sogar, was ja nicht selbstverständlich ist wie wir wissen. Ari muss recht wenig an sich machen, jedenfalls finde ich keine Kritikpunkte.

Das Outfit passt schon einmal Quelle:https://www.youtube.com/watch?v=nloweviD_90

Das Staging lässt mich zwiespaltigen zurück: Einerseits ist es stimmig und passend, aber andererseits packt es mich überhaupt nicht. Zu Beginn steht er mit dem Rücken zum Publikum (Anja Nissen lässt grüßen) und singt direkt in verschiedene Kameras. Da hat das Timing noch nicht ganz gestimmt, aber das wird kein Problem sein bis Mai. Anschließend steht er an einem Mikrophonständer, bis er diesen zur Bridge umwirft (dieser Rowdy) und ein paar Schritte nach vorne macht. Um ihn herum steht eine Band, von denen vier als Backgroundsänger agieren und die Instrumente natürlich nur als Showelement spielen. Die Beleuchtung besteht zu meist aus blau und lila, außerdem gibt es einige Wolkenbilder im Hintergrund.

Natürlich kann man bei einer solch klassischen Ballade kein außergewöhnliches Staging machen - aber ein außergewöhnlich gutes ist möglich! Da Ari erst 19 Jahre jung ist, könnte das jedoch einige Abweichungen zu lassen, um diesen angestandenen Song doch noch eine gewisse Würze zu verleihen. Das es keine LED-Elemente in Portugal geben wird halte ich eher für einen Vorteil für Island. Ein schwarz/Weiß Filter zu Beginn, bis zum zweiten Vers könnte einen guten Effekt haben. Ebenso etwas Bewegung ab dem selben Zeitpunkt. Generell würde ich eine intime Atmosphäre kreieren, also wenige offene Kameraeinstellungen, viele Nahaufnahmen und ein Fokus auf den ausstrahlungsstarken Sänger. Auch ein Pyroregen zu Ende mag zwar klischeehaft wirken, könnte den Effekt des Liedes auf den Zuschauer ausbauen. Wenn man zu wenig macht, gerät dieser Beitrag sehr schnell in Vergessenheit. Auf dramatische Tänzer würde ich natürlich verzichten, das passt gar nicht. Die Band würde ich zu einem Chor umfunktionieren, die ihm nicht nur gesanglich, sondern auch optisch den Rücken stärkt. Zur Message des Songs passen die gewählten Farben bereits, jedoch würde ich zum Finale (Während seines Tones) auf orange-Töne umstellen, um den Effekt erneut zu vergrößern. Von schwarz/weiß zu blau zu orange.

Die Wettquoten und Chancen: 

Ohne mich all zu sehr in der isländischen Musikbranche auszukennen, kann ich sagen, dass er wohl eines der größten Talente auf der einsamen Insel ist und wir ihn nicht zum letzten Mal gesehen haben, egal wie es im Mai in Portugal ausgeht. Gesanglich ist er Spitze drauf, nur der Song wird ihm nicht gerecht. Ein Phänomen, dass leider ziemlich häufig beim ESC anzutreffen ist. 

Auch die Vorzeichen jenseits der eigenen Stärke sehen alles andere als gut aus. Island startet im absoluten Horror-Semifinale 1 und dann auch noch in der ersten Hälfte in der Nähe von auffälligeren und besseren Balladen wie Litauen und Estland. auch von den skandinavischen Punktelieferanten hat es nur der geizigste Finnland in das selbe Semifinale geschafft. 

Die Wetttquoten folgen diesem klaren Bild auch und so kommt es, dass Island Stand 16.03. nur auf Rang 39 liegt und somit kaum Chancen in Aussicht gestellt bekommt, sich qualifizieren zu können. Dabei ist der Trend sogar noch eher positiv, da sie vor 4 Tagen sogar die rote Laterne als 43. kurzzeitig inne hatten.

Meine Einschätzung ist leider, dass es Island auch dieses Jahr nicht schaffen wird, in das Finale einzuziehen. Und das seit 2015 die klarste Pleite werden wird. Im Gegenteil. Ich gehe eher davon aus, dass sie tief drin im Kampf um den letzten Platz stecken, besonders da Semi 1 eben das vielleicht stärkste Semifinale aller Zeiten sein könnte. Viel Potential steckt nicht mehr im Song, Ari kann sich kaum verbessern, das Staging war schon recht passend und die Frist, um doch noch mit der Isländischen Version anzutreten, ist schon abgelaufen. Es sieht sehr düster aus um Island, man kann nur hoffen, dass sich die Statistik bewahrheitet: Die zweiten Plätze wurden 1999, 2009 und vielleicht 2019 errungen?

Ein Blick zurück in bessere Zeiten: Aris Entdeckerin Selma, bei ihrem zweiten Platz 1999:



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