Lisboa 2018

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Freitag, 31. März 2017

Zwei selbsternannte Opfer ohne Täter

Das Drama war vorprogrammiert, die EBU ignorierte es und nun haben wir den Salat: Die Politik-Eskalation des ESC's hat einen neuen Urknall erreicht, nur Täter gibt es weit und breit keine. Zwei total verhärtete Fronten, die jeweils die Gegenseite beschuldigen für die hohen Opferzahlen verantwortlich zu sein und dazwischen eine heillos überforderte Anstalt, die Neutralität predigt, sich dabei aber auf eine Seite schlägt. Herzlich Willkommen im Clown-Hamsterrad, oder anders ausgedrückt, Willkommen zum ESC 2017, Willkommen in der Ukraine!

Von Beginn an deutete sich an, dass der aktuelle Konflikt in der Ostukraine, zwischen eben dieser und Russland, auch Auswirkungen beim ESC haben werde. Welche Dimensionen das nun alles annimmt, wäre durch ein konsequentes Auftreten der Organisatoren von der EBU vermeidbar gewesen. So dreht sich das Eskalationsrad weiter und weiter, außerhalb jeder Kontrolle und die Musik wurde schon längst überrollt.

Wir rollen den ganzen Fall zurück und versuchen das Geschehen chronologisch geordnet in mundgerechten Häppchen an den Mann zu bringen. Aus russischer Sicht beginnt das Dilemma im März 2016, aus der Sicht der Ukraine zwei Jahre früher. Im Jahre 2014 begannen nämlich die Ausschreitungen in der Ukraine und die, zumindest Beeinflussung Russlands, wobei vieles für mehr spricht. Die Krim Annexion, der Flugzeugabschuß und die Unterstützung der Separatisten in Donezk und der gesamten​ Ostukraine durch Russland, führten die Ukraine in einen Bürgerkrieg und einen Krieg, gegen ein Gespenst, das selbst jegliche Beteiligung leugnet. Auch beim ESC 2014 hatte das ganze Auswirkungen. Die Ukraine, welche gerade einen Pro Westlichen Kurs Dank der Maidanrevolution (Euromaidan) eingeschlagen hatte, wurde in Dänemark von der restlichen europäischen Gemeinschaft solidarisch bejubelt und unterstützt. Das belanglose Liebeslied Tick Tock, konnte im Nachhinein als Zeitbombe verstanden werden. Das von vielen Europäern als schuldig angesehene Russland schickte ein minderjähriges blondes Zwillingspaar, das ein Liebeslied schmetterte. Liebe empfanden zu dieser Zeit nur wenige Menschen für Russland und so kam es, dass die beiden in ungeheurer Lautstärke ausgebuht wurden. Sie versuchten sich nichts anmerken zu lassen, doch man sah es ihnen an, dass ihnen der Moment mehr weh tat, als sie ihn genießen konnten. Ihr großer Moment, zerstört von der Politik des Landes.

Hier startet das Eskalationsrad mit den ersten Schwüngen, praktisch wie das Hamsterrad, das bei der Ukraine auf der Bühne stand. Der Riss zwischen Putinreich und dem Rest des Wettbewerbs wurde deutlich. Ein konsequentes Auftreten der EBU, insbesondere von Jon Ola Sand wäre bereits hier nötig gewesen. Ein einfacher Regelzusatz: Länder, die gegeneinander einen Krieg bestreiten, dürfen auf Grund dieser politischer Brisanz nicht teilnehmen. Das wäre es gewesen, doch so kam das nächste Jahr.

2015 sagte die Ukraine ab, der Konflikt wirkte sich zu stark auf den Etat des Landes aus und für Musik war nun wahrlich der falsche Zeitpunkt. Russland hingegen nahm Teil und schickte das im Nachhinein fast zynische "A million voices". Eine Friedensballade, mit diesem Text: "Wir beten für Frieden und Besserung, ich hoffe, wir können neu starten" Einige Monate nach der Krim Annexion, ein Schelm, der eine Verbindung sieht. Der europäische Zuschauer fand die sehr gefühlvolle und ausdrucksstarke Polina so toll, dass man sie auf den zweiten Platz hob, 12 Punkte aus Deutschland nebenbei. Hier ist es nun durchaus strittig, ob man es als Provokation gegenüber der Ukraine sehen muss. Man kann es auf jeden Fall, die Beweggründe werden nie aufgedeckt werden. Die EBU verlor jedoch hier erneut die Kontrolle über ihre Neutralität (welche die EBU schon lange in anderen Fällen verloren hatte). Die russische Sängerin wurde von Teilen der Halle ausgebuht, als sie größere Wertungen abkassierte. Darauf wurde ein Jubeln aus der Konserve abgespielt, sobald es Punkte gab. Ist es politisch neutral, die Meinung der Zuschauer zu unterdrücken und zu verschleiern? Ist das nicht auch schon eine Form der Einflussnahme, wenn man das negative Bild Russlands, versucht in ein anderes abzuändern?

2016, also der Start der russischen Version, war der bisherige Höhepunkt. Während Russland einen unpolitischen Song nach Stockholm schickte, entschied sich der Rückkehrer Ukraine für etwas Gewagtes. In einem skandalösen, von Politik bestimmten Vorentscheid, setzte sich Jamala mit "1944" durch. Die Krimtatarin verarbeitete darin die Geschichte ihrer Großmutter, die damals von Stalins Schergen von der Krim deportiert wurden. Man muss kein Politikwissenschaftler sein, um die Lyrics auf die aktuelle Krimsituation anzupassen. Jamala bekräftigte immer lautstark, dass es ihr nur um die Geschichte ihrer Großmutter ginge. Da sie bisher keine sonstigen politischen Aktivitäten startete, glaube ich ihr. Jedoch glaube ich daran, dass sie die aktuelle Situation für sich ausnutzte. Die Zuschauer in der Ukraine empfanden natürlich den selben Schmerz um die Krim in 2014 und sie hatte zur richtigen Zeit, das richtige Lied. Somit war der Erfolg von ihr fast sicher, am Ende jedoch noch knapper als vermutet. Als der Beitrag fest stand, waren sich viele Foren einig, dass die EBU daran etwas zu beanstanden haben muss! Die Russen drehten natürlich am Rad, machten schöne Kampagnen auf Russia Today und Politiker beschäftigten sich mit dem Thema. Die EBU jedoch ließ den Beitrag (den Text) ohne Beanstandungen zu und nun hatte sie die Kontrolle vollkommen verloren. Es kam am Finalabend natürlich wie es kommen musste: Die Russen gewannen das Publikumsvoting, landeten in der Jurywertung aber abgeschlagen weit hinten. Die Juroren der westlichen Länder haben ja nicht für Russland stimmen dürfen, argumentieren später viele russische Politiker. Fehlende musikalische Qualität, gepaart mit der riesigen Diaspora Russlands, sorgen für den Unterschied, argumentierten hingegen die Kritiker. Wie so oft, liegt die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte. Das Bild des Abends: die vorne liegende Ukraine oben, der auf seine Punkte wartende Sergey aus Russland unten. Ukraine jubelt über enttäuschten Russen und "besiegt" diese praktisch.

Boykottforderungen aus Russland standen seit jenem Maiabend auf dem Tagesplan. Die Ukraine war ein stolzer Sieger, durch das neue Nationalgefühl auch von einer Ausrichtung trotz fehlender Halle überzeugt. Die EBU genehmigte der Ukraine die Austragung, trotz des stehts laufenden Konflikts in der Ostukraine. Das Rad drehte sich zu schnell, um es noch zu stoppen. Nun holte sich Bürgermeister Klitschko den Wettbewerb nach Kiew, ins bisher schmucklose Messegelände. Darauf war lange nichts von den russischen Teilnahmeambitionen zu hören, bevor sie 24 Stunden vor Frist diesen Beitrag einsendeten:

A flame is burning

Da ich, im Gegensatz zur EBU weiß, dass ich keinen neutralen Bericht schreiben kann, werde ich nun sowohl die Perspektive aus Russland und der Ukraine darlegen. Die Qualität des Songs lasse ich dabei außer Acht. Für mich persönlich der schlechteste Beitrag seit 2015.

Russische Perspektive:

Wir haben uns nach langer und intensiver Diskussion entschlossen, am ESC teilzunehmen. Wir glauben an den unpolitischen Charakter des Musikwettstreits und hoffen, dass die Ukraine uns fair behandelt und unsere Sicherheit vor ukrainischen Nationalisten gewährleistet. Der ESC war schon immer losgelöst von jeglicher Politik und wir hoffen, dass die Ukraine diese Tradition beibehält.

Yulya ist keine normale Sängerin. Seit ihrem Kindesalter ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen, das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihre Träume zu verwirklichen. Niemand dachte, dass eine Behinderte erfolgreiche Sängerin werden könne. Niemand dachte, dass eine Behinderte ein Land beim Eurovision Song Contest vertreten könne. Mit a flame is burning erzählt sie die Geschichte, wie ihr Traum (flame) sich endlich verwirklicht und wie stolz, froh und glücklich sie ist, insbesondere, da sie es nie leicht hatte. Der ESC ist ihr großer Traum, bereits bei ihrer Castingshowteilnahme sang sie den ESC Siegerssong von 2007.

Leider erreichte uns die Nachricht von ukrainischen Behörden, dass Yulya nicht einreisen dürfe, da sie eine nationale Gefahr für die Ukraine dar stelle. Eine junge Dame in ihren Zwanzigern, die ihren Traum leben will, sei eine nationale Bedrohung? Diese Einschätzung zeigt die Russophobie und Diskriminierung von Behinderten in der Ukraine. Der ESC wird als Deckmantel der Propaganda instrumentalisiert und da machen wir nicht mit. Wir werden weder teilnehmen, noch den ESC ausstrahlen. Nächstes Jahr, sofern der ESC nicht in der Ukraine statt findet, werden wir Yulya schicken, damit sie ihren Traum erfüllen kann.

Ukrainische Perspektive:

Das ist doch alles ein bis ins letzte Detail geplante Propagandamittel der Russen! Russland hatte von Anfang an gar nicht vor teilzunehmen, dass können wir sogar beweisen. Bevor wir jegliche Beurteilung der Person Samoylova veröffentlichten, gab es ein Treffen der Delegationen, indem die Hotels verteilt bzw. verkündet wurden. Die Russen hatten kein Hotel gebucht.  Sie hätten es allen erleichtert, wenn sie einfach auf Grund der aktuellen Situation nicht teilgenommen hätten. Aber sie treten nach und benutzen des ESC als Propagandamittel gegen uns aus!

Sie verkündeten die Interpretin so kurz vor Frist, um deren Austausch unmöglich zu machen. In den letzten Jahren stand der Interpret jeweils Wochen vor Fristende fest. Zufall? Samoylova darf auf Grund geltender ukrainischer Gesetze nicht einreisen, nicht auf Grund einer von ihr ausgehender Bedrohung. Sie veröffentlichte einige Statements zur Krim auf ihren Sozialen Netzwerken und reiste auf die Krim für Konzerte. Das wäre nicht schlimm, wenn sie über legalen (heißt von der Ukraine) Wege eingereist wäre. Da sie aber von russischer Seite einreiste, startete unser Geheimdienst Ermittlungen gegen sie. Ein Gesetz besagt, dass jeder, der die Krim von russischem Territorium aus bereist, eine dreijährige Einreisesperre in die Ukraine erhält. Nach eingehender Prüfung war das bei Samoylova der Fall.

Dieses Gesetz gilt bereits seit einiger Zeit und wurde nicht für den ESC beschlossen, sondern findet Anwendung bei vielen Personen. Die Behinderung der Person spielt dabei keine Rolle. Wir haben diese Gesetze offen kommuniziert und die Russen haben extra eine Person ausgewählt, die dagegen verstößt, um das alles dann auf die diskriminierenden behindertenfeindlichen Ukrainer zu lenken. Dass das Gesetz nicht nur für Russen gilt, sondern für jede andere Nationalität auch, passt natürlich nicht ins Bild der russophoben Ukrainer. Auch bei der armenischen Interpretin gibt es aktuell Ermittlungen, wegen der selben Problematik, doch ein Ergebnis steht noch nicht fest.

Der ESC ist kein rechtsfreier Raum und geltende Gesetze müssen angewendet werden, es gibt keine Immunität! Somit schiebt Russland uns den schwarzen Peter zu. Entweder wir machen eine Ausnahme und erlauben ihr die Einreise, geben die Krim damit ein Stück auf und verstoßen gegen unsere eigenen Gesetze, oder wir sind die Bösen, die einer Behinderte den Traum zerstören. Im Übrigen haben wir nie Russland ausgeschlossen, sondern die Person. Sollte Russland so viel am Contest liegen, könnten sie ja einen Interpreten bestimmen, der nicht gegen geltende Gesetze verstößt. Ein so großes Land, hat doch bestimmt viele talentierte Sänger. Diese riesige Inszenierung ist nur ein kleiner Teil des Propagandakrieges mit Russland.

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Ob Russland nun teilnimmt oder nicht steht in den Sternen. Die Chancen stehen wohl sehr schlecht. Die EBU allerdings verhält sich alles andere als das von ihr so oft gepredigte neutral. In einem offenen Brief fordert sie die Ukraine auf, Samoylova eine Einreiseerlaubnis auszusprechen, obwohl es glasklar gegen das Gesetz ist. Der russische Einfluss in der EBU scheint riesig zu sein. Offenbar drohen in diesem Brief auch einige Nationen einen Boykott der Veranstaltung, falls das aktuelle Einreiseverbot bestehen bleibt. Ich mutmaße die Russland freundlichen Nationen wie Weißrussland, Serbien, Moldau dank neuem Präsident,... Die Ukraine werde des Weiteren mit Sanktionen in den nächsten Jahren bestraft, gegebenenfalls mit einem Ausschluss, so wie es nach EBU Recht möglich ist. Wer hier nun nicht die Doppelmoral der EBU erkennt, sollte den Absatz erneut lesen. Durch diese klare Positionierung der EBU erhält das ganze eine neue Brisanz. Ein Versuch, Samoylova per Videoleinwand aus Russland zuzuschalten, wurde öffentlichkeitswirksam kund getan, jedoch von beiden Seiten kopfschüttelnd abgelehnt. Da die EBU solche Vorschläge nicht intern verhandelt, sondern mit der Presse unter eine Decke geht zeigt, dass die EBU nur Alibi mäßig um einen Kompromiss bemüht ist. Einen klar Schuldigen und ein Opfer hat die Dachorganisation schon gefunden.

Das eigentliche Opfer sind aber andere. Samoylova, egal ob von Russland willendlich provoziert, wird um ihren Traum gebracht. Der größte Verlierer ist aber der ESC. Der in Zeiten von politischen Krisen oftmals Recht unbeschadet davon kam. In diesem Konflikt jedoch gab man beiden Parteien zu viel Spielraum, es kam viel unglücklicher Zufall hinzu und so riskiert man die Marke damit. Ironisch und lächerlich ist ein Satz, aus dem Appell der EBU an die Ukraine: "Bitte sorgen Sie dafür, dass der unpolitische Charakter des ESC'S nicht beschmutzt wird."

Für das nächste Jahr wünsche ich mir eins: Das Fernbleiben sowohl der Ukraine, als auch Russlands​, bis der Konflikt halbwegs gelöst ist. Doch scheinbar teilt die "neutrale" EBU diese Einschätzung nicht.

So rufe ich: Herr Sand, treten Sie zurück!